Mit dem letzten Sonnenlicht entschwanden die beiden Hand in Hand am fernen Horizont. Bis gestern noch hatte er ihr Leben versüsst und nun dieser herbe Schicksalsschlag! «Für solch gesalzene Eintrittspreise hätte ich einen geschmackvolleren Film erwartet!» Mit saurer Miene verlassen viele Kinogänger den Saal.

 

Beim Lesen dieser Zeilen könnte man meinen, Geschmack sei in vielen Fällen mit Negativem belastet. Selbst das Angenehme – z.B. Süsses – birgt unangenehme Seiten (Gewichtszunahme etc.). Wir alle lieben aber gutes und geschmackvolles Essen, bei welchem eine gute Mischung der Geschmacksrichtungen unsere Sinne belebt. Im Ayurveda spielen die Geschmacksrichtungen eine wichtige Rolle, wie Sie in den nächsten Abschnitten lesen können.

 

Rasa - der Geschmack

Sobald eine Substanz unsere Zunge berührt, erfahren wir einen bestimmten Geschmack. Dieser wird im Ayurveda als «Rasa» bezeichnet. Dabei werden im Ayurveda sechs Geschmacksrichtungen unterschieden:

  • süss (madhura)
  • sauer (amla)
  • salzig (lavana)
  • scharf (katu)
  • bitter (tikta)
  • herb, zusammenziehend (kashaya)

 

Um die verschiedenen Geschmacksrichtungen der Nahrungsmittel überhaupt unterscheiden zu können, verfügt unsere Zunge über definierte Zonen, um süss, sauer, salzig, scharf, bitter und herb zuverlässig schmecken und identifizieren zu können. So schmecken wir beispielsweise ein süsses Lebensmittel auf der Zungenspitze, eine bittere Substanz weiter hinten und salzig auf beiden Seiten der Zunge.

 

Geschmack und Elemente

Ebenso wie die drei Doshas (Funktionsprinzipien) Vata, Pitta und Kapha mit den fünf Elementen assoziiert werden, stehen auch die sechs Geschmacksrichtungen in einer direkten Beziehung zu diesen. Jede Geschmacksrichtung besteht aus den entsprechend vorherrschenden Elementen:

  • süss besteht aus Erde und Wasser
  • sauer aus Erde und Feuer
  • salzig aus Wasser und Feuer
  • scharf aus Luft und Feuer
  • bitter aus Luft und Äther
  • herb aus Luft und Erde

 

Geschmack und Doshas

Da jede dieser Geschmacksrichtungen ein Dosha entweder verstärkt oder vermindert, sind dies wichtige Ansätze, um innere Balance herbeiführen zu können. Ayurvedische Experten empfehlen aus diesem Grunde, Nahrungsergänzungsmittel aus traditionellen Kräutern und Mineralien eine Weile auf der Zunge zu behalten, wenn möglich zu zerkauen und nicht gleich herunterzuschlucken. Das Kapha Dosha wird durch süss, sauer und salzig verstärkt, das Pitta Dosha durch sauer, salzig und scharf und das Vata Dosha durch die Geschmacksrichtungen scharf, bitter und herb.

 

Zudem wird im umfassenden ayurvedischen Wissen beschrieben, dass im Stoffwechsel süss und salzig aufbauende (anabolische), sauer metabolische und scharf, bitter und herb abbauende (katabolische) Eigenschaften aufweisen. Für ein gesundes Gedeihen braucht das Baby süsse Muttermilch, ein Entschlackungstee hingegen beinhaltet scharfe, bittere und herbe Kräuter.

 

Der süsse Geschmack

Die Qualitäten von madhura (süss) sind laut Ayurveda schwer, kühlend und ölig. Nahrungsmittel mit süssem Geschmack beruhigen Vata und Pitta, erhöhen dagegen Kapha. Süsse gibt laut Ayurveda Energie, Elan und Vitalität. Wer beim süssen Geschmack in erster Linie an Schokolade, Kuchen und Pudding denkt, unterschätzt das umfassende Wissen des Ayurveda. Viele unserer Lebensmittel verfügen über einen süssen Geschmack. Dazu gehören z.B. Reis, Dinkel, Hafer, gekochte Karotten und Randen, Maiskolben, Mandeln, Cashewnüsse und Ghee, aber auch Milch, Olivenöl, Kichererbsen, Gurke, Kokosnuss oder Estragon.

 

Der saure Geschmack

Die Qualitäten von amla (sauer) sind ayurvedisch betrachtet flüssig, leicht, wärmend und ölig. Saure Lebensmittel und Substanzen regen Agni an, verringern Vata, erhöhen gleichzeitig Pitta und Kapha. Eine kleine Menge Nahrungsmittel mit saurem Geschmack stimuliert den Appetit, erfrischt und energetisiert den Körper. Sauer sind u.a. Zitronen, Grapefruits, Beeren, Jogurt, Käse, Essig und Tamarinde, aber auch Tomaten, Butter oder Hüttenkäse.

 

Der salzige Geschmack

Die ayurvedischen Qualitäten von lavana (salzig) sind schwer, ölig und Wasser bindend. Moderat eingesetzt baut der salzige Geschmack Vata ab, erhöht jedoch Pitta und Kapha. Eine kleine Menge Salz stimuliert die Speichelproduktion und unterstützt die Verdauung. Salzige Nahrung gibt Energie und erhält das Wasser-Elektrolyt-Gleichgewicht, was besonders im Sommer und bei sportlichen Aktivitäten wichtig ist.
Den salzigen Geschmack nehmen wir durch Steinsalz, Meersalz, Sesamsalz (Gomasio), Meeralgen etc. auf.

 

Der scharfe Geschmack

Die Qualitäten von katu (scharf) sind nach ayurvedischem Verständnis leicht, austrocknend und wärmend. Dadurch verringert der scharfe Geschmack Kapha, erhöht jedoch Vata und Pitta. Bei moderatem Konsum von scharfen Nahrungsmitteln wird Agni angeregt, der Geist profitiert von Wachheit und der Körper von Vitalität. Der scharfe Geschmack sollte jedoch immer vorsichtig eingesetzt werden, die anderen Geschmacksrichtungen dürfen dabei nicht überdeckt werden. Schärfe findet sich hauptsächlich in Gewürzen wie Chili, schwarzem Pfeffer, Ingwer, Senfsamen, Anis, Kreuzkümmel, Nelken und in rohen Zwiebeln, Knoblauch, Rettich, Radieschen.

 

Der bittere Geschmack

Ayurveda beschreibt die Qualitäten von tikta (bitter) als kühl, leicht und trocken. Bitterer Geschmack erhöht Vata, reduziert hingegen Pitta und Kapha. Seit frühesten Kindertagen versuchen wir den bitteren Geschmack zu meiden. Bittere Substanzen schmecken wir mit Vorsicht, assoziieren sie seit Urzeiten mit «ungeniessbar» oder gar «giftig». Doch ohne eine kleine Menge bitteren Geschmacks fehlt unserem Essen etwas. Der bittere Geschmack soll gar die anderen fünf Geschmacksrichtungen stärken. Dies mag erklären, weshalb der bittere Kaffee in unserem Kulturkreis so beliebt ist… Bittere Lebensmittel sind gar nicht so selten: Chicorée, Löwenzahnsalat, Artischocke, Aubergine, Bockshornklee, Kurkuma oder Salbei sind bittere Nahrungsmittel und Gewürze.

 

Der herbe, zusammenziehende Geschmack

Die ayurvedischen Qualitäten von kashaya (herb, zusammenziehend) sind kühlend, austrocknend und schwer. Dadurch verstärkt der herbe Geschmack Vata, reduziert jedoch Pitta und Kapha. Im Gegensatz zu den vertrauten Geschmacksrichtungen süss, sauer und salzig ist herb weniger bekannt und schwerer zuzuordnen. Adstringierender Geschmack wirkt erdend. Am ehesten erkennen wir den zusammenziehenden Geschmack, wenn wir in eine unreife Banane beissen oder Spinat essen. Auch Rosenkohl, Broccoli, grüne Oliven, Löwenzahnblätter, braune Linsen und andere Hülsenfrüchte sowie Rosmarin, Kurkuma, Dill und echte Vanille sind herb.

 

Sechs Geschmacksrichtungen in einer Mahlzeit

Um nach dem Essen vollkommen zufrieden und satt vom Tisch aufzustehen, hält der Ayurveda einen ganz einfachen Tipp bereit: Jede Hauptmahlzeit soll alle sechs Geschmacksrichtungen enthalten: süss, sauer, salzig, scharf, bitter und herb. Aufwändig, kompliziert und in der heutigen Zeit nicht praktikabel? Keineswegs!

Eine vollwertige ayurvedische Mahlzeit besteht aus:

  • Getreide (Reis, Teigwaren, Polenta, Quinoa, Hirse etc.)
  • frischem, saisonalem Gemüse mit oder ohne Salat
  • Hülsenfrüchten als Proteinlieferant (Mung Dal, Linsen, Kichererbsen etc.)
  • vielleicht einem kleinen Dessert
  • Gewürzen (auch als praktische Gewürzmischungen)
  • kaltgepressten Pflanzenölen und/oder reinem Butterfett (Ghee)
  • wenig Himalayasalz und ein paar Tropfen Zitronensaft

 

Ein perfektes ayurvedisches Menu wird all Ihre Sinne befriedigen. Mit etwas Aufmerksamkeit gelingt Ihnen sogar ein einfaches Eintopfgericht, in dem alle sechs Geschmacksrichtungen harmonisch vereint sind.

 

Begeben Sie sich auf eine kulinarische Entdeckungsreise und erfreuen Sie sich an einer faszinierenden Geschmackswelt, die sich Ihrer aufmerksamen Zunge öffnet. Ihr Wohlbefinden dankt es Ihnen ganz gewiss.